Blick auf die professionelle Kinder- und Jugendhilfe – Interview mit Jennifer Schrumpf

Jennifer Schrumpf (21) ist selbst außerfamiliär aufgewachsen. Mit Erreichen der Volljährigkeit beendete sie die Jugendhilfemaßnahme und zog auf eigene Faust in eine WG, um ihr Abitur zu absolvieren. Zurzeit befindet sie sich in Vorbereitung auf ein Medizinstudium. Jennifer wurde durch eine Instagram-Story der Tagesschau auf Lebensarchitektur aufmerksam und hat sich bereit erklärt, für diesen Beitrag ein Interview mit uns zu führen. Damit gibt Jennifer uns einen weiteren Einblick in die Kinder- und Jugendhilfe „von innen“.

Lebensarchitektur (LEA): Du verfügst über viele Jahre eigener Erfahrungen in Einrichtungen der Elternhilfen. Nachdem du die Instagram-Story der Tagesschau gesehen hattest, hast du mit uns Kontakt aufgenommen. Was war der Grund?

Jennifer Schrumpf: Der Verein Lebensarchitektur stellt die wahrgewordene Vision dar, die ich selbst hatte. Ich habe mir fest vorgenommen, mich in meinem Leben für mehr Liebe und Geborgenheit, seelisches Wohlbefinden und nicht zuletzt für mehr Begeisterung für Bildung bei Kindern, die nicht bei ihrer Familie aufwachsen können, einzusetzen.

LEA: Was hat dir gefehlt, als du in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe gelebt hast?

Jennifer: Ob es nur die Demütigung durch den Namen der Bushaltestelle „Silz Kinderdorf“ war, an dem mich meine Mitschüler ein- und aussteigen sahen – das Kinderdorf hatte einen verpönten Ruf – oder die Tatsache, dass Liebe ein fundamentaler Bestandteil einer humanitären Erziehung darstellt und eine Abstinenz dessen zu traurigen Folgen wie einer erhöhten Gewaltbereitschaft, seelischer Verkümmerung, etc. führen kann, habe ich am eigenen Leib erfahren. Ich wünsche mir, dass jedes Kind unabdingbare Liebe bekommt. Es kann nicht akzeptiert werden, dass das Geben dieser Geborgenheit als Arbeit angesehen wird. Zudem hat mir ein Rahmen gefehlt, in dem man gut lernen kann. Dabei beziehe ich mich auf Ruhe und Räumlichkeiten, aber auch auf einen Austausch mit Erwachsenen zum Beispiel über aktuelle politische Themen etc. Das habe ich immer versucht, in den Elternhäusern meiner Freunde zu erfahren.

LEA: Bis heute wird z.B. das Zuhause für Kinder in der professionellen Erziehung exklusiv „Gruppe“ und „stationäres“ Wohnen genannt. Würdest du darin auch eine Demütigung der Kinder in Einrichtungen sehen?

Jennifer: Aus meiner jetzigen Sicht ja. Damals habe ich mich aber nie mit den Begriffen identifiziert. Für mich gab es zu der Zeit einfach kein „Zuhause“, ich lebte quasi dauerhaft mit dem Gefühl zu schweben und keinen richtigen Rückzugsort zu haben. Das war Großteils auch praktisch so, da es oft Doppelzimmer waren und man mit fremden Kindern dauerhaft einen Schlafraum teilte.
Die Bezeichnung der Bushaltestelle (s.o.) stellte für mich insofern eine Demütigung dar, dass ich durch das Ein- und Aussteigen meinen Mitmenschen quasi offenbarte, dass ich dort im Heim untergebracht bin. Meinen besten Freunden erzählte ich natürlich, was bei mir „abging“, aber Bekannten aus der Schule einfach Fremden gegenüber war es mit einer großen Scham verbunden, mich als Heimkind zu erkennen zu geben.
Wenn im Rahmen des Hilfsplans oder in anderen Situationen mit den Begriffen „Gruppe“ und „stationäres“ Wohnen gesprochen wurde, berührte mich das nicht allzu sehr, denn ich wusste für mich selbst, dass ich mehr bin und ein Ende in Sicht ist.

LEA: Wenn Kinder mit Mama und Papa Ausflüge machen, ist formal alles so einfach. In der professionellen Erziehung müssen nach jeder Fahrt Fahrtenbucheinträge vorgenommen werden, die vor allem den älteren Bewohner/Innen bewusst machen, „ah ja, der Ausflug war wieder eine Arbeitsleistung“. Oder für das Eis am Kiosk, das Getränk am See, für jede Kleinigkeit muss eine Quittung erfragt werden. Hast du solche Vorgänge auch kennengelernt? Wie haben sie auf dich gewirkt?

Jennifer: Oh ja, die wöchentlichen verpflichtenden „Gruppenausflüge“… Zugegeben, ich habe eine verstärkt negative Brille durch die ich auf diese Ausflüge blicke. Kinder, die sich mehr mit der Einrichtung identifiziert haben und mit ihrer Situation zufriedener waren, würden vielleicht nicht so ein Erinnerungsbild haben. Auch wenn es arrogant klingen mag, ich möchte ehrlich antworten: Ich habe mich in der Öffentlichkeit meist sogar geschämt, mit meinen Erziehern und den Heimkindern auftreten zu müssen. Man spürte durch die Blicke anderer Menschen schon die unausgesprochenen Vorurteile, auch wenn ich genau wusste, dass sie nicht auf mich zutrafen. Ich habe es teils versucht, einfach auszublenden oder es einfach über mich ergehen lassen.
Dass nach Quittungen gefragt wurde, hat es in Summe dann auch nicht mehr viel schlimmer gemacht, man ist eh gewöhnt, dass alles, was man verbraucht bzw. bekommt genau finanziell berechnet wird. Essensgeld, Kleidungsgeld, …

LEA: Kinder und Jugendliche in Einrichtungen erleben, dass ihre Betreuer/Innen über sie Tagebuch schreiben oder es „dokumentieren“ nennen. Lesen dürfen die Betreuten jedoch meist nicht, was über sie geschrieben wird bzw. gewöhnlich ist es nicht gestattet. Sollten diese Pflichten besser ohne Kenntnis der Kinder vorgenommen werden, wenn Kinder und Jugendliche sie ohnehin nicht lesen dürfen? Völlig unsensibel sagen immer wieder Fachkräfte, wenn sie in die Wohngemeinschaft kommen, dass sie erstmal lesen müssen, was über die Bewohner/Innen geschrieben wurde. Was denkst du dazu? Wie fühlen sich Kinder und Jugendliche in Einrichtungen, wenn sie solche Informationen von ihren Betreuer/Innen erhalten?

Jennifer: Definitiv! Mal davon abgesehen, dass es die Kinder jedes Mal daran erinnert, dass sie für ihre Betreuer „nur“ die Arbeitsstelle darstellen. Ich habe öfters die Situation erlebt, in der man so einen Bruchteil durch Zufall mitbekommen hat, und das hat von Verunsicherungen bis hin zu Verletzungen und Verärgerung geführt. Gerade, wenn es Informationen sind, von denen das Kind weiß, dass sie sich auf einen selbst beziehen, es die Informationen aber gar nicht richtig einordnen oder gar verarbeiten kann.

LEA: Grundlegend heißt es: Kinder sollen die gleiche Würde und Achtung erfahren, unabhängig davon, ob sie bei ihren Eltern oder in professionellen Hilfen zur Erziehung aufwachsen. Wie siehst du die Situation in den professionellen Erziehungshilfen?

Jennifer: Ich glaube, dass jeder, der sich für so einen sozialen Beruf entscheidet, natürlich ein gewisses Maß an Empathie mitbringt. Ich kann einem Menschen mit Respekt, Menschlichkeit und generell positiv gestimmt begegnen. Jedoch finde ich, umfasst die Würde eines Kindes auch, dass es emotional nicht verkümmern gelassen, sondern mit Liebe und Nähe genährt wird. Ein Säugling stirbt ohne körperliche Zuneigung schließlich auch. Als Erwachsener ist man selbst dafür verantwortlich, sein Leben durch Gefühle und Bindung zu anderen Menschen lebenswert zu gestalten. Als Kind jedoch nicht. Da ist man erst in der Phase, sozial-emotional zu reifen. Zudem haben Kinder, die außerfamiliär aufwachsen meist eine psychische Traumatisierung erlitten und haben so ein noch höheres Bedürfnis nach Geborgenheit, um die Erlebnisse besser zu verarbeiten. Das Problem liegt darin begraben, dass es in meinen Augen einen nahezu unlösbaren Konflikt darstellt, noch so empathische und professionelle Betreuer zu beauftragen, für die Kinder zu sorgen. Sie können und sollen aus Eigenschutz auch nicht die tiefen zwischenmenschlichen Bindungen eingehen, die viele Kinder aber bräuchten. Somit bleibt ein Liebesdefizit und damit auch ein gewisser Verlust der Würde bei den Kindern.

LEA: Ein Zuhause, das z.B. stationäres Wohnen genannt wird. Kinder, die als „Fälle“ und Besprechungen über sie als „Fallbesprechungen“ in Einrichtungen und in Behörden geführt werden. Endlos ist die Liste geradezu verletzender Zuschreibungen, die Kinder im professionellen Helfersystem erfahren. In Wirklichkeit sind es die Eltern, die Hilfen zur Erziehung erhalten. Die Kinder geraten völlig unverschuldet in diese Lebenslage. Was sind deine Erfahrungen?

Jennifer: Ich selbst habe in meiner Patchwork-Familie vor meinem endgültigen Auszug auch zahlreiche Familientherapien über mich ergehen lassen müssen, jedoch kann ich mich noch gut daran erinnern, dass ich nie bereit war, bei einer solchen Therapie mitzuarbeiten. Ich habe stets die Bestätigung erfahren, dass ich das zentrale Problem, der Fall und alleinige Ursache aller Konflikte sei, so wie meine Mutter und mein Stiefvater es kommunizierten. Heute weiß ich, dass jeder Mensch subjektive Prägungen durch unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse hat, Situationen in seiner Realität wahrnimmt und man niemals eine Person für einen Missstand in der Familie alleine zentrieren sollte. Als Kind habe ich deswegen blockiert und mich verweigert, was für mich zur Folge hatte, dass ich sogar medikamentös gegen eine angebliche ADHS-Diagnostik therapiert wurde. Komisch, dass die nicht mehr existiert, seit in meinem Leben wieder bedeutsam Liebe und Vertrauen eingezogen sind. Was ich damit sagen will: Mein Verhalten war äußerst kontraproduktiv. In meinem Innersten spürte ich natürlich das Verlangen nach einer Umarmung, lieben Worten und Geborgenheit. Ich unterdrückte dieses Bedürfnis aber so sehr, denn ich hätte mich nie getraut, einfach zu sagen, was mir fehlt. Die Situation war dauerhaft so von Streit und Gewalt geprägt, da glich es einer Utopie, den Wunsch so zu äußern. Als noch nicht mal pubertäres Kind wusste ich mir aber nicht anders zu helfen. Insgeheim hoffte ich immer, dass jemand meine Bedürfnisse erkennt und einfach mal versucht, mir mit Liebe zu begegnen, auch wenn es auf andere beteiligte Erwachsene total absurd gewirkt hätte.

LEA: Was sollte sich noch in der professionellen Erziehung ändern?

Jennifer: Ich wünsche mir mehr Begeisterung für Bildung bei den Kindern. Lern- und Wissbegierde sind meiner Ansicht nach eine Frage des Umfelds und der Gewohnheit. Ich habe viele Kinder in meinen Heimzeiten kennengelernt, die ich als schlauer als so manche meiner Mitschüler beschreiben würde, doch durch die Umstände in ihrem Leben werden sie bereits so früh determiniert, nicht ihr volles berufliches Potential zu entfalten. Dazu kommen Missstände finanzieller bzw. organisatorischer Natur: Beispielsweise sollte definitiv mehr Geld für hochwertige und nährstoffreiche Lebensmittel generiert werden, denn was wir in uns reinstecken hat wohl die direkteste Wirkung auf unsere kognitive, mentale und natürlich physische Leistungsfähigkeit und Entwicklung. Es bleibt der Konflikt des Bedarfs der Kinder nach einer adäquaten Bezugsperson, die eine tiefe Verbundenheit, Liebe und Geborgenheit zulässt und der professionellen Distanz, die Betreuende einhalten sollten.

Das Interview führte Wolfgang Steinert. Er wohnte ebenfalls in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung. Heute ist er geschäftsführender Gesellschafter eines Münchner IT-Unternehmes und Mitglied im Aufsichtsrat/Kuratorium des Lebensarchitektur e.V.

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