An einem Samstag sind der 17-jährige Ranvir der Lebensarchitektur-Wohngemeinschaft und der pädagogische Leiter Bernhard Santiago Kuhn der Einladung der Fachhochschule nach Bielefeld gefolgt, an einer Veranstaltung der pädagogischen Fakultät zur „interkulturellen Kompetenz“ teilzunehmen.
Seit eineinhalb Jahren setzt Lebensarchitektur ein integratives Kinder- und Jugendhilfe-Wohnkonzept um, das zunächst mit minderjährigen Flüchtlingen gestartet war. Die Ältesten der Kinder-und Jugendwohngemeinschaft in Gütersloh können dabei ihre Entwicklung inzwischen im Betreuten Wohnen, einem erweiterten Angebot, fortsetzen. Einheimische Jungen konnten damit nachziehen und ermöglichen, dass eine Wohngemeinschaft in kultureller Vielfalt zusammen lebt. Wir leben damit schon heute die Gesellschaft von morgen.
Herr Kuhn betonte bei der Veranstaltung die besondere Bedeutung, die das Einüben der kulturellen Vielfalt bereits im Kinder- und Jugendalter für ein später gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben hat. Der aus Indien stammende Ranvir berichtete von einem guten Auskommen aller Bewohner. Meinungsverschiedenheiten oder auch Streitereien, die es überall gibt, werden ggf. mit Unterstützung der PädagogInnen ausgetragen, wie in jeder Familie.
Zuvor lebte Ranvir in einer großen Einrichtung mit 50 Plätzen und schilderte, dass dort ein Gemeinschaftsleben so gut wie nicht stattfand. Jeder lebte für sich. Ein gemeinsames Lernen fand nicht statt. Selbst das Essen wurde von einem Caterer geliefert, Essensgewohnheiten fanden dabei keine Berücksichtigung. Jetzt kochen und essen alle zusammen bzw. können ihre Essenswünsche einbringen. Vorher sei er untergewichtig gewesen, inzwischen habe er in der Lebensarchitektur Wohngemeinschaft ein Normalgewicht erreichen können, nennt Ranvir als einen für ihn bedeutsamen Unterschied.
Eingehend wurde von den Studenten auch nach dem Selbstverständnis von Lebensarchitektur mit einer explizit pädagogischen Sprache bzw. Familiensprache gefragt. Konsens schien für alle, dass ein Zuhause nicht „stationäres Wohnen“ heißen könne und auch „Gruppe“ nicht dem Anspruch auf eine stigmatisierungsfreie Erziehung von Kindern und Jugendlichen gerecht werde. Zugleich wurde aber auch kritisch nachgefragt, wie dann die Abgrenzung der Fachkräfte gelinge und ob nicht PädagogInnen unter diesem familiären Anspruch ausbluten. Herr Kuhn verwies auf die Arbeitszeitregeln, die für alle pädagogischen Fachkräfte auch unter einer entsigmatisierten pädagogischen Konzept gelten. Es mache jedoch einen Unterschied, ob ein Arbeitskontext (Arbeitszeiten, Dienstpläne; Schichtsprache etc.) vor den Kindern und Jugendlichen ausgebreitet wird oder auf der Ebene der betreuenden Fachkräfte bleibe.
Die klinischen Zuschreibungen, die weit verbreitet die professionelle Kinder- und Jugendhilfe ganz selbstverständlich gegenüber den aufgenommenen Kindern verfolgen, wird nach Kuhn nicht den Einzelbiographien gerecht. Insbesondere werde vergessen, dass Kinder und Jugendliche in Einrichtungen aufgenommen werden, weil es Eltern sind, die Hilfen zur Erziehung benötigen. Eine traditionelle Kinder- und Jugendhilfe fokussiere dabei zu schnell auf das „Problemkind“ das in den Behörden und Einrichtungen gar als „Fall“ geführt wird. Kuhn schlägt daher vor, dass bereits im Gesetz ursachengerecht von „Elternhilfe“ und nicht länger von „Kinder- und Jugendhilfe“, mit einer verfehlten Verantwortungszuschreibung, gesprochen werden sollte.
Am Schluss war es für alle eine interessante Begegnung, die neue Facetten der Kinder- und Jugendhilfe aufzeigte. Beeindruckt war auch Ranvir aus der Wohngemeinschaft und meinte, der Austausch mit den Studenten sei für ihn interessant gewesen und er habe viel Neues gehört.