30.04.2021
Offener Appell an die Ministerpräsidenten der Bundesländer sowie die Bürgermeister der Stadtstaaten zur Abstimmung des Bundesrates am 07.05.2021 über den Bundestagsbeschluss vom 22.04.2021 zu den sog. Kostenbeiträgen von Kindern gem. § 94 Abs. VI SGB VIII im Rahmen der vorliegenden Fassung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes
Sehr geehrte/r …,
am 22. April hat der Bundestag in 3. Lesung u.a. die Änderung des § 94 VI SGB VIII beschlossen. Danach sollen Kinder, deren Eltern Hilfen zur Erziehung erhalten, zukünftig statt mit 75% nur noch mit 25% ihres Einkommens einen Kostenbeitrag für ihre Eltern leisten. Der Gesetzesvorschlag benötigt nun Ihre Zustimmung.
Als leidvoll Betroffene haben Millionen von Kinder in Deutschland jahrzehntelang, ohnmächtig die Haftung für ihre Eltern hinnehmen müssen. Viele von uns haben ihre Ausbildungen oder ihre Wohnzeiten abgebrochen, weil „Heimkinder“ 75% ihrer Lehrlingsvergütung oder ihrer Verdienste aus Ferienjobs an die Jugendämter abgeben müssen. Unerklärlich ist bis heute warum Kinder in Einrichtungen für ihre Erziehung erhebliche Kostenbeiträge bezahlen und für ihre Eltern finanziell haften müssen.
Von dieser Haftung für unsere Eltern werden die Kinder und Jugendlichen auch in der Fassung des Bundestages vom 22.04.2021 nicht vollständig befreit. Dabei bestimmt unsere Verfassung eindeutig, dass die Pflicht und das Recht zur Erziehung den Eltern obliegt (Art. 6 Abs. 2 GG).
Allerdings stellt die Reduzierung der Kostenbeitragspflicht der Kinder, deren Eltern Hilfen zur Erziehung erhalten um 50%, einen beachtlichen Fortschritt dar.
Seit 7 Jahren bieten bundesweit einmalig – ehemalige, beruflich erfolgreiche, sog. Heimkinder, selbst professionelle Hilfen zur Erziehung, mit dem von ihnen aufgebauten Sozialwerk, Lebensarchitektur e.V. – Hilfen für Kinder und Eltern, an. Grundanliegen ist es professionelle Hilfen zur Erziehung aus der Sicht von Menschen zu leisten, die diese Hilfen selbst erlebt haben. Zugleich ist es insbesondere erforderlich, das Bild von Kindern in Einrichtungen vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Dazu gehört u.a. eine neue Definition von professioneller Pädagogik, die eine stigmatisierende Sprache und Haltungen gegenüber Kindern in Einrichtungen ausschließt. Ein Zuhause für Kinder darf nicht länger z.B. in einen pauschalen klinischen Kontext gestellt und als „stationäre Wohnformen“ uvm., exkludiert werden. Eine „inklusive Pädagogik“, wie sie der Lebensarchitektur e.V. fordert und lebt, bedeutet Kinder in allen Belangen gleich zu begegnen, unabhängig davon, ob sie bei ihren Eltern oder in professionellen Hilfen aufwachsen.
Zur Sitzung des Bundesrates am 7. Mai 2021 appellieren wir insbesondere daran, dass Kinder nicht länger finanziell in Haftung für die Hilfen zur Erziehung ihrer Eltern genommen werden.
Der Lebensarchitektur e.V. sieht in der finanziellen Haftung der Kinder für ihre Eltern nach § 94 Abs. 6 SGB VIII einen Verfassungsbruch, einen Machtmissbrauch, in jedem Fall eine ethisch verwerfliche Maßnahme gegenüber allen Kindern in Deutschland, deren Eltern Hilfen zur Erziehung erhalten.
Art. 6 Abs. 2 GG weist unzweifelhaft die Pflicht zur Erziehung den Eltern zu. Der Rückgriff auf die Haftung der Kinder durch eine jahrzehntelange 75% Regelung war nur möglich, weil sich die Kinder in den Einrichtungen nicht wehren konnten bzw. eine erfolgreiche Lobby fehlt.
Wir fordern einen Schadensausgleich und die Rückerstattung sämtlicher Kostenbeiträge, die Kinder und Jugendliche von ihrem selbst verdienten Geld seit Einführung dieser gesetzlichen Bestimmung zahlen mussten. Es ist ein finsteres Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte, dass die Kinder in Einrichtungen bis heute für ihre Erziehung bezahlen müssen.
Kinder geraten völlig unverschuldet in diese für sie ohnehin regelmäßig traumatisierende Lebenslage.
Wir appellieren an Sie, verehrte Damen und Herren Ministerpräsidenten, der Haftung von Millionen betroffener Kinder in Einrichtungen in Deutschland für ihre Eltern durch Ihre Zustimmung zur Neufassung des § 94 VI SGB VIII des Bundetages entgegenzuwirken und bitten Sie darum, dass Sie sich für eine komplette Abschaffung des „Kostenbeitrages“ einsetzen.
Es darf nicht verwundern, wenn Kinder sich später radikalisieren und eine Gesellschaft auseinanderdriftet, weil ihnen von Anfang u.a. die finanzielle Verantwortung für ihre Eltern aufgebürdet wird, wenn sie nach Entscheidung der Jugendämter in Einrichtungen nach SGB VIII aufwachsen.
Lebensarchitektur e.V. – Hilfen für Kinder und Eltern
Weilheim, den 30. April 2021
Marco Weiß | Bernhard Santiago Kuhn | Malte Siebert |
Vorsitzender des Kuratoriums Lebensarchitektur e.V. | geschäftsführender Vorstand Lebensarchitektur e.V. | Mitglied des Vorstandes Lebensarchitektur e.V. |